Das Schreckgespenst AIDS hat ja ausgedient!
"Obwohl ihm die wohlgemeinten Präventionsratschläge nicht fremd sind, hat sich der junge Mann nach quälenden inneren Konflikten entschieden, auf das Kondom zu verzichten – trotz aller wohlbekannten Risiken..." (Märkische Allgemeine, 30.11.11)
(gayBrandenburg-Tabulose Rundschau) Mit Carsten Bock, HIV-Berater beim Rat und Tat - Beratungszentrum für schwule Männer in Potsdam sprach gayBrandenburg anlässlich des Welt-Aids-Tages über HIV-Schnelltests, positive schwule Männer und Authentzität von Beratung.
Herr Bock, wenn Sie diese Aussage lesen, glauben Sie dann noch an die Wirksamkeit von Präventionsstrategien?
Der Glaube allein nutzt ja nichts. Nur das Wissen um die Risiken beim Sex bewirkt einen sichereren Umgang mit dem, was uns allen Entspannung und Ausgleich bringen kann. Aber richtig ist auch, dass Wissen und der gute Wille nicht immer ausreicht. In die HIV-Testberatung, die wir hier bei Katte e.V. anbieten, kommen viele schwule Männer, die sich nach kondomfreien Sex erkundigen.
Woran liegt das? Haben diese Männer keine Angst vor einer HIV-Übertragung?
Das Schreckgespenst AIDS, der 80er Jahre hat ja Gott sei Dank ausgedient. Vor allem schwule Jugendliche gehen heute anders mit der "Gefahr" um. Lieber nehmen sie, wenn es sie erwischen sollte, eine Pille pro Tag ein, als auf Spass zu verzichten.
Also kann man auf Prävention getrost verzichten?
Das wäre nicht meine Aussage. Die meisten schwulen Männer, aller Altersklassen benutzen nach wie vor Kondome, um sich keinem Übertragungsrisiko auszusetzen. Das ist ein Erfolg der Prävention in Deutschland. Aber manchmal will oder muss Mann, aus verschiedensten Gründen, einfach das Kondom weglassen. Die jahrzehntelange Propagierung der 100% Gummi-Botschaft erreicht nur noch bedingt vor allem die Gruppen der Männer, die häufig ihren Sexualpatner wechseln oder die bildungsferner junger Schwuler. Diese Gruppe verzichtet proportional häufiger auf ein Kondom. Dabei spielen auch Faktoren wie Alkohol und Drogen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wer sich am Wochenende in einigen Berliner schwulen Diskotheken umschaut, weiß sicherlich wovon ich rede. Hinzu kommt die fehlende Vorbildwirkung bei Pornos. Zunehmend wird hier auf Kondome verzichtet. Übrigens bei Hetero-Pornos mehr, als bei schwulen.
Im selben Artikel wird die Heterosexualität der Beratung bei der Potsdamer Aidshilfe beklagt.
Die HIV-Testberatung für schwule Männer wird auch in der Potsdamer Aidshilfe regelmäßig einmal im Monat, bei der ich der Berater bin, zusammen mit den beiden Kolleginnen angeboten, zusätzlich im September im Potsdamer Gesundheitsamt. An den jeweiligen Orten kommen auch ganz unterschiedliche Klienten. Es ist aber zu beobachten, dass die Ratsuchenden vermehrt die Authentizität des Beraters einfordern. Ob das eine Frau kann, liegt im Ermessen des Klienten. Schlussendlich ist es eine Abstimmung mit den Füßen. Im Rat und Tat - Beratungszentrum, welches durch Katte betrieben wird, betreuen wir inzwischen über 50 HIV-Positive und es werden jedes Jahr mehr schwule Jugendliche und Männer.
Was macht das Besondere einer Beratung von Schwulen für Schwule aus?
Nicht jeder schwule Mann fällt mit der Tür ins Haus und beschreibt ausführlich seine zurückliegenden Risikosituationen. Während des Beratungsgesprächs, machen wir uns zuerst gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit, um danach über individuelles Risikomanagement zu sprechen. Oft werde ich auch vom Klienten getestet, inwieweit er mir vertrauen kann. Erst nach mehreren Anläufen sagt er mir das, was ich wissen sollte, um ihn beraten zu können. Das hat viel mit der erforderlichen langwierigen Betreung und Beratung zu tun und der Fähigkeit auf gleicher Augenhöhe Brücken zum Klienten bauen zu können und nicht normgerechtes "Fehlverhalten" zu akzeptieren.
Mit einem offene Umgang mit seinem HIV-Status macht man sich in Brandenburg nicht nur Freunde?
Eine HIV-Infektion und Transmission wird noch immer skandalisiert und kriminalisiert. Jüngstes Beispiel ist die Rechtssprechung zum Berliner Pharmakonzern der mit einer Entlassung eines positiven Mitarbeiters, Recht bekam. Das ist für mich der eigentliche Skandal, da chronische Erkrankungen nicht Anlass von Diskrimierung sein dürfen. Ein offen lebender und öffentlicher HIV-Positiver, der einen Diskurs antreibt, ist wichtig. Auch wenn es manchmal schmerzhaft ist.
Positiv in Brandenburg zu sein bedeutet...?
Versuchen sie mal in Brandenburg eine HIV-Schwerpunktpraxis ausserhalb der Landeshauptstadt zu finden. Ich kann ihnen sagen ihre Suche wird vergeblich sein. Ganz zu schweigen von qualifizierten Beratungsangeboten für schwule Männer. Auch eine so lebensnotwendige Positiven-Selbsthilfe findet der Betroffene nur noch in Berlin und bruchstückhaft in Potsdam.
Da muss man doch etwas tun?
Wenn es nicht so bitter wäre, würde ich jetzt lachen. Wir setzen uns schon seit Jahren für die Schaffung regionaler und überregionaler Projekte im MSM-Kontext in Brandeburg ein. Aber das scheitert immer wieder an den Voraussetzungen. Die notwendige Aus- und Weiterbildung über die Deutsche Aidshilfe wird von Präventions- und Beratungsstrukturen in Brandenburg nicht in dem Maße genutzt, wie es eigentlich notwendig wäre. Damit fängt es an und geht mit der notwendigen Prävalenz in der Fördermittelvergabe weiter. Auch wenn ich es an dieser Stelle ungern sage, aber die Entscheidungsstrukturen auf Landesebene und zwischen den Aidshilfen selbst, behindern diese Arbeit in Brandenburg. Die Baustellen werden nicht weniger. Ob die Landesregierung und insbesondere die beiden zuständigen Fachministerien ein endgültiges Signal zur Klärung der Probleme aussenden werden, wird sich mit der Umsetzung des Gesundheitszieleprozess 2012 zeigen.